Alexander Strohmaier schätzen wir seit längerer Zeit als Kinderbuchillustrator. Sein 2009 zu einem Text von Melanie Laibl entstandenes Von der Krähe, die einen Vogel erscheint demnächst in überarbeiteter Neuauflage.
Mitte März kommt Strohmaiers Graphic Novel Wild Boy heraus – und ist mit 440 Seiten ein Comic-Debüt ungewöhnlich epischen Ausmaßes. Die Buchpräsentation von Wild Boy findet am 20. März 2014 um 19.30 Uhr im PULSE, Schottenfeldgasse 3, 1070 Wien statt.
Wild Boy ist die Geschichte einer stürmischen Jugend in den 1970er Jahren, mit allem, was dazugehört: die musikalische Erweckung, maßgeblich beeinflusst durch den ansonsten ziemlich unbrauchbaren Vater, das selbstgebaute Schlagzeug und die Beatles; dann die Drogen und Partys, die Rebellion gegen die Schule und alles Institutionalisierte; und natürlich der Sex, die unbändige Lust an den Frauen und aufs Ausprobieren und das Wirrwarr der Gefühle.
Brigitte Willinger von Design Austria hat mit Alexander Strohmaier über die Gattung der Graphic Novel gesprochen, über die Entstehung seines Buches und das Lebensgefühl der 1970er und 1980er Jahre. Wir dürfen dieses spannende Interview mit freundlicher Genehmigung ungekürzt wiedergeben:
Brigitte Willinger: Worin unterscheidet sich eine Graphic Novel von einem Comic?
Der Begriff wurde von Art Spiegelman und einem anderen berühmten amerikanischen Comic-Zeichner, Will Eisner, eingeführt. Schon das Wort »Comic« verpflichtet ja zur Komik, die wir seit jeher mit dem Comicstrip verbinden. Die beiden wollten aber nicht mehr lustig sein, sondern »ernste« Comics machen. Sie haben in den 1990er-Jahren die ersten Graphic Novels geschrieben.
Typisch für das Genre ist auch das autobiografische Element. Spiegelmans »Maus – Geschichte eines Überlebenden« wurde 1992 als erste Graphic Novel mit dem Pulitzer-Preis, dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Die Buchhändler lieben den Ausdruck »Graphic Novel«, weil er das Genre der Bildergeschichte aufwertet – er steht für Niveau, während man Comics nicht mit Literatur assoziiert.
B.W.: Hat sich das Medium Comic mittlerweile nicht etabliert?
Finde ich nicht. Es ist zwar dank dieser Aufwertung durch die Graphic Novel weiter verbreitet und auch in den Buchhandlungen vertreten. Doch Comics sind auf dem Level geblieben, auf dem sie immer waren.
B.W.: Der Unterschied besteht also in der Ernsthaftigkeit der Aussage, im Autobiografischen. Auch im Umfang, im Format?
Genau. Es geht mehr in Richtung Buch, Roman. Den Comic verbindet man eher mit dem Heftformat. Doch die Grenzen sind fließend. Manche verweigern den Begriff »Graphic Novel«, verwenden generell »Comic«. Es stört mich auch nicht, wenn mein »Wild Boy« als Comic bezeichnet wird. Das passt schon, schließlich habe ich bis zu meinem 18. Lebensjahr nur Comics gelesen. Weitere Parallelen gibt es außerdem zum Cartoon, bei dem es sich in der Regel um ein Einzelbild handelt, der aber auch ein Comicstrip sein kann. Auch beim Cartoon dreht es sich jedoch in erster Linie um Witz und Parodie.
B.W.: Wo liegen die Ursprünge des heutigen Comics und der Graphic Novel?
Manche bezeichnen Wilhelm Busch als ersten Comics-Zeichner. Doch bereits Rodolphe Töpffer, ein Zeitgenosse Goethes, hat Bildergeschichten geschrieben. Die eigentlichen Comics entstanden vor der Wende zum 20. Jahrhundert; Ende des 19. Jahrhunderts erschienen in Amerika die ersten Strips und Seiten, die sogenannten »Funnies«. Für Europa waren Frankreich und Belgien besonders wichtig, die Comics von »Tim und Struppi« des Belgiers Hergé kamen ab den 1930er-Jahren heraus.
B.W.: Sind Spiegelman und Eisner Vorbilder für dich gewesen?
Nein, sie waren mir eine Anregung. Als Zeichner ist der Franzose David B. mein Vorbild. Und als Romanautor verehre ich T. C. Boyle sehr. Das waren irgendwo Leitbilder. David B. arbeitet wie ich in meiner Graphic Novel in Schwarzweiß, was üblich ist bei so vielen Seiten. Bis zu einem Umfang von etwa 150 Seiten kann man schon in Farbe arbeiten, doch wenn es darüber hinausgeht, wird es zu aufwendig. Manche Comicverlage haben eigene Leute, die kolorieren, teilweise wirklich sehr schön.
B.W.: Und wie bist du auf die Graphic Novel gestoßen?
Ich habe mit 20 das Buch für mich entdeckt und aufgehört, Comics zu lesen. Wie ich begonnen habe, Bücher zu lesen, habe ich es aber nicht ausgehalten, dass da keine Bilder drin sind. Also habe ich welche dazu gezeichnet, zum Beispiel für die »Unendliche Geschichte«. Ich war dann lange auf Kriegspfad mit Comics. Als Schulabbrecher wollte ich Bildung nachholen, habe Klassiker gelesen, viele Romane. Ungefähr vor zwölf Jahren habe ich einen in Wien lebenden französischen Künstler, Thierry Robert, kennengelernt. Er ist auch Zeichner und hat mich zu sich eingeladen und mir ganz tolle Comics gezeigt, Stücke aus seiner Sammlung. Da habe ich wieder Feuer gefangen. Er hat mich auch auf einen Comics-Laden in der Zollergasse hingewiesen, den es mittlerweile nicht mehr gibt. Ich habe wieder angefangen, Comics zu sammeln und zu lesen.
Dann war da Hannes Schaidreiter, ein Comics-Zeichner und Herausgeber, der auch andere gefördert und Kleineditionen herausgebracht hat. Der hat in den 1990er-Jahren die Kleinedition Mixer gegründet, die nur kopierte Büchlein vertrieben hat, in Automaten. Er hat meistens ein Thema gestellt, die Zeichner dazu zeichnen lassen und dann alles kopiert, geheftet und verkauft. Er war ein großer Förderer und ist immer wieder auf mich zugekommen. Er hat übrigens als Herausgeber die ersten Comics bei meinem jetzigen Verlag, Luftschacht, veröffentlicht, eine Anthologie mit dem Titel »Perpetuum«. Und er hat mich auch mit Luftschacht in Kontakt gebracht. Das Kinderbuch »Von der Krähe, die einen Vogel hat«, eine Geschichte von Melanie Laibl, die ich illustriert habe, wurde von zwei renommierten Verlagen abgelehnt.
Es war ein sehr ungewöhnliches Bilderbuch, weil mit handschriftlichem Text, von mir geschrieben, und ein wenig so aufgebaut wie ein großer Comic. Der eine Verlag hat gemeint, wir machen nichts mit Handschrift, das können die Kinder nicht lesen. Der andere hat eingewendet, ein Buch, in dem Text und Bild so miteinander verwoben sind, eignet sich nicht für die Übersetzung in andere Sprachen, da sind keine Lizenzen zu verkaufen.
Schaidreiter hat die Skizzen den Leuten von Luftschacht gezeigt, und die haben sofort ja gesagt. Das war mein erstes Bilderbuch im Luftschacht-Verlag.
B.W.: Ist das schon alles mit dem Ziel im Hinterkopf passiert, eine Graphic Novel zu machen?
Nein, überhaupt nicht. Es gab dann noch ein zweites Kinderbuch von Melanie Laibl und mir bei Luftschacht, »Herr Grimm und Frau Groll«, aber mit gesetztem Text. Während dieses Buch entstanden ist, habe ich mich mit Hannes Schaidreiter immer wieder zum Frühstück getroffen und ihm aus meinem Leben erzählt. Er meinte, ich sollte aus den Episoden Comics machen. Ich konnte aber mit den einzelnen Episoden nichts anfangen und bin irgendwann auf den Gedanken gekommen, ein ganzes Buch, eine zusammenhängende Geschichte daraus zu machen.
B.W.: Wann war das?
Ungefähr vor vier Jahren. Die Idee habe ich dann an Luftschacht herangetragen, und die haben das unterstützt. Ich habe Skizzen vorgelegt, und Jürgen Lagger, einer der beiden Verlagsleiter, hat sofort zugesagt. Auch er hat mich unglaublich gefördert. Ich habe dann circa ein Jahr gebraucht, bis ich den Bogen von meinem siebten bis zum 25. Lebensjahr gespannt hatte. Es hat lange gedauert, bis es eine durchgängige Geschichte wurde und eine Verbindung zwischen den einzelnen Episoden hergestellt war. Es sollte nicht zu aufgesetzt wirken, einfach nur eine Geschichte mit wilden Abenteuern.
B.W.: Ist das Genre Graphic Novel in deinen Augen eher ein literarisches oder gehört es zur bildenden bzw. angewandten Kunst?
Es ist literarisch. Absolut. Auch wenn es Bilder hat, geht es ja um eine Erzählung. Obwohl – und genau das gefällt mir daran – man über mehrere Seiten mit wenig oder gar keinem Text auskommt. Man kann mit Bildern erzählen. Es reicht ein Satz, dann kommen einige Seiten Bilder. Als Illustrator denkst du klarerweise in Bildern. Das Schreiben habe ich mir eigentlich leichter vorgestellt. Ich bin draufgekommen, dass man an manchen Sätzen sehr lang feilen muss. Ich habe aber schon in den 1990er-Jahren Bilder und Bücher (Künstlerbücher) mit Texten dazu gemacht. Ich hatte immer schon ein starkes Bedürfnis, Bild und Text zu kombinieren oder Bildern einen langen Titel zu geben.
B.W.: Es steht zu vermuten, dass bei so einem aufwendigen und langfristigen Projekt der Arbeitsaufwand keineswegs auch nur halbwegs in Relation zum finanziellen Rückfluss steht. War es reine Liebhaberei und Leidenschaft, dieses Projekt durchzuziehen?
Nein, das steht in keinem Verhältnis. Ich bekomme vom Verlag zwar Autoren- und Illustratorenhonorar und habe das Projekt auch mithilfe von Stipendien des BMUKK finanziert. Aber in erster Linie ist es Leidenschaft. Ein Zeichner muss zeichnen. Natürlich würde ich mich freuen, wenn jetzt auch ausländische Verlage an mich herantreten würden, mit einem Projekt für eine neue Graphic Novel oder wegen einer Übersetzung.
Es gibt in Europa und Amerika Verlage, die mir sehr gut gefallen, von den Zeichnungen und von den Inhalten her: Reprodukt in Deutschland, Edition Moderne in der Schweiz, Drawn and Quarterly in Kanada, Fantagraphics Books in den USA. Das ist meine Welt. In Österreich möchte ich Luftschacht treu bleiben, etwa, wenn es von »Wild Boy« eine Fortsetzung geben sollte.
Luftschacht ist für mich der Verlag in Österreich, auf den ich schon immer gewartet habe. Es hat hier nie einen Verlag gegeben, mit dem ich zufrieden war. Und ich habe für einige gearbeitet, als Kinder- und Jugendbuchillustrator, als Schulbuchillustrator. Da gab es immer Einschränkungen und Einwände – zu künstlerisch, zu ausgeflippt. Bei Luftschacht gibt es das einfach nicht. Es wird angenommen, was ich mache, ich kann mich entfalten. Da ist mir das Geld dann auch nicht so wichtig. Einmal meinen Lebensunterhalt nur mit Graphic Novels zu verdienen, ist eine schöne Vorstellung, aber kein wirkliches Ziel.
B.W.: Wie hast du das Projekt entwickelt, das sich ja über vier Jahre hingezogen hat? Wie sah der Arbeitsprozess aus?
Ich habe zuerst einmal Episoden aufgeschrieben. Dann habe ich komischerweise Bilder und Skizzen gemacht, die damit nicht unmittelbar etwas zu tun hatten. Am Anfang ist es mir sehr schwer gefallen, die Episoden in Bilder umzusetzen. Ich habe ganz frei, assoziativ gezeichnet, aber die Zeichnungen sind nicht recht mit den Texten zusammengegangen.
B.W.: Waren das abstrakte Bilder?
Teilweise. Ich habe damals versucht, die Episoden lyrikmäßig zusammenzuführen, aber das hat nicht funktioniert. Dann habe ich begonnen, mich selbst zu zeichnen, in verschiedenen Lebensaltern – als 6-, 10-, 16- und 20-Jährigen. Zuerst war meine Figur Mischa eine Art »Kopffüßler«, dann hat er langsam einen Oberkörper bekommen. Das war der eigentliche Beginn.
Dann kamen meine Eltern, meine Großeltern dran. Ich habe zunächst nur die Figuren gezeichnet. Und erst als ich die ersten drei, vier Lebensjahre niedergeschrieben hatte, habe ich es geschafft, die ersten Panels zu zeichnen. Und dann, wenn ich mich recht erinnere, saß ich einmal neben einem meiner Schüler, der zeichnete. Mir wurde es langweilig, ihm zuzusehen, und es kam mir eine Szene in den Sinn: Der kleine Mischa Maier sitzt zu Hause in seinem Zimmer und schreibt Aufgaben, und seine Eltern streiten im Nebenzimmer. Das war sozusagen die Schlüsselszene, die habe ich aufgeschrieben und aufgezeichnet.
Das Schriftliche musste generell reduziert werden. Ich musste entscheiden, was wichtig, was unwichtig war. Aber da ich viel Erfahrung mit Comics hatte, ging das relativ leicht. Am schwierigsten war also der Anfang. Wie geht es los? Und entscheidend war die Reduktion. Es durften nicht zu viele Orte, zu viele Personen vorkommen. Und nicht alles, was man erlebt hat, ist interessant. Ich hab dann eineinhalb Jahre Skizzen gemacht. Das erste Skizzenskript war 220 Seiten lang. Ich dachte, die Geschichte sei fertig, und habe das Skript Jürgen Lagger gegeben, in der Hoffnung, er würde mir sagen, was noch fehlt. Aber er hat nur gemeint: »Mach! Wenn du fertig bist, erscheint es.« Er hat mir alle Freiheit gelassen.
Nach einer Pause bin ich das Skript – die Skizzen – noch einmal durchgegangen. Ich habe begonnen, es mit Bleistift auf die Originalseiten zu übertragen. Aber schon bald, etwa nach der fünften Seite, habe ich bemerkt, da gibt es eine große Lücke, das ist viel zu abrupt, das kann ich nicht so lassen. Das war schrecklich. Also zurück zum Skizzenbuch. Das ging dann so im Wechsel hin und her, zwischen Skizzenbuch und Originalseiten. Darum ist das Buch dann auch auf 430 Seiten angewachsen, weil ich immer wieder befand, das ist nicht flüssig, nicht rund. Als ich dann 150 Seiten in Bleistift hatte, habe ich Jürgen Lagger zu mir zu Kakao und Torte eingeladen und ihn gebeten, sie zu lesen. Ich wollte sichergehen, dass ich so weitermachen konnte. Er war zufrieden und ich wusste, ich war am richtigen Weg. Er hat den Text des Buchs lektoriert und mir Anregungen gegeben, was man weglassen kann.
Textstreichungen waren kein Problem, Bildstreichungen hat es keine gegeben. Und dann gab es noch einen zweiten Mann, den Autor und Lektor Dietmar Krug, der hat früher bei der Tageszeitung »Die Presse« die Wochenendbeilage »Spectrum« betreut, war Lektor bei Böhlau und hat jetzt auch seinen ersten Roman »Mehr Freiheit« im Otto-Müller-Verlag in Salzburg herausgebracht. Ich kenne ihn über die Musik. Er hat unglaubliches Interesse gezeigt und mir sehr wertvolle Hinweise gegeben, sowohl text- als auch bildmäßig. Das war ganz toll.
B.W.: Und nach der Bleistiftzeichung?
Habe ich alles mit Feder und Tusche nachgezogen …
B.W: Ein unglaublich aufwendiger Prozess. Und mir scheint er beinahe schwieriger als bei einem »nur« geschriebenen Buch, wo man ausschließlich mit dem Text umgehen muss, leichter streichen und umstellen kann …
Ja, aber das habe ich schon im skizzierten Skript gemacht. Da habe ich gestrichen, geschnitten, umgeklebt. In dieser Phase habe ich selbst große Strukturänderungen vorgenommen. Ich bin das Skript an die zehnmal durchgegangen, bevor ich annähernd zufrieden war, bis alles rund war, schön floss, nicht übertrieben erschien.
B.W.: Wie verhält sich die Entwicklungs- zur Ausarbeitungsphase?
Schwer zu sagen, weil ich selbst in der Endphase, beim Nachziehen der Bleistiftzeichnungen, immer noch Veränderungen vorgenommen habe, wenn mir eine Nase oder eine Hand nicht gefallen hat. Was ich vielleicht noch sagen muss: Ich habe extra für das Buch wieder mit dem Aktzeichnen begonnen, weil ich gemerkt habe, dass meine anatomischen Kenntnisse nicht mehr ausreichend waren. Parallel zur Arbeit am Buch habe ich daher bis vor einem Jahr – also drei Jahre lang – zwei Nachmittage in der Woche an Übungen im Aktzeichnen teilgenommen: Körperhaltung, Handstudien, Perspektive. Mein Stil ist zwar simpel, aber richtig soll es schon sein.
B.W.: Das Buch ist autobiografisch. Wie bist du auf Mischa, den Namen deines Alter Egos, gekommen?
Er sollte schon so ähnlich wie Sascha, die Abkürzung meines Namens, klingen. Alle Figuren, die noch leben, wurden umbenannt. Sehr viel ist aber nur angeregt von der Wahrheit, einiges ist erstunken und erlogen oder auch erträumt. Da hat mich die Leidenschaft des »G’schichtl-Erzählens« voll gepackt. Es hat mir immer schon Spaß gemacht, etwas zu erzählen, was nicht ganz wahr ist, um Lacher und Aufmerksamkeit zu ernten. Das habe ich hier voll ausgelebt, wenn es gepasst hat. Andererseits denkt man bei manchen Episoden: Das hat er sich sicher nur ausgedacht, während man bei anderen meinen könnte: Na, das wird schon wahr sein. Und in Wirklichkeit ist es genau umgekehrt.
Ich habe wirklich ganz schräge Sachen erlebt in meinem Leben. Schon als 13-Jähriger war ich sehr viel auf der Straße. Meine Eltern waren ganz mit sich selbst beschäftigt, hatten mich überhaupt nicht unter Kontrolle. Ich habe Schule geschwänzt, bin von einem Wahnsinn in den anderen geschlittert. Es gab immer genug Geld, ich konnte kaufen, was ich brauchte. Es hat mir nie an materiellen Dingen gefehlt, aber an Sicherheit und Geborgenheit.
Es kommt auch ein ganzes Kapitel vor, das gänzlich erfunden ist, das Kapitel »Im Wald«: Da lebe ich vier Jahre freiwillig im Wald. Das ist eine kleine Rache an meinen Eltern: Vater, Großvater und Polizei wollen mich zurückholen aus dem Wald, aber ich laufe davon und verstecke mich. Das passt insofern zu meinem Leben, als ich schon als Kind sehr viel allein im Wald war, um der unangenehmen Stimmung daheim zu entkommen. Ich bin mit dem Rad hingefahren und stundenlang allein im Wald gesessen. Das war schon als Kind eine wesentliche Beruhigung und Beglückung für mich und ist es bis heute geblieben: Ich gehe drei, viermal in der Woche im Wald spazieren, um mich zu entspannen und zu inspirieren. Es hilft auch in einer schwierigen Situation oder wenn ich keine Ideen habe.
B.W.: Eine Fortsetzung ist angedacht?
Ich habe keine Ahnung. Meine erste Geschichte läuft bis zum 25. Lebensjahr. Ich verrate das Ende jetzt nicht. Nach meinem Diplom an der Angewandten bin ich ja im wirklichen Leben zwei Jahre nach Brasilien gegangen. Im Buch gibt es da eine Parallele, die passt. Ich habe aber keine Ahnung, wie eine Fortsetzung ausschauen könnte, weil das Leben danach nicht mehr so wild war. Aber der Wild Boy könnte ein Wild Girl treffen …
B.W.: Wie bist du auf den Titel »Wild Boy« gekommen?
Der Arbeitstitel war eigentlich »Waldboden«, weil ich den Wald so mag. Aber das hat thematisch nicht gepasst. Ich habe wahnsinnig lange gebraucht, einen passenden Titel zu finden. Er war dann auch nicht meine Idee, sondern die von Melanie Laibl. Der Verleger war zunächst gar nicht so angetan davon, weil es ihn an die Nummer von Duran Duran (»The Wild Boys«) erinnert hat, den schrecklichsten Song, den es nach meinem Dafürhalten gibt. Er hat dann aber eingewilligt, weil der Titel zu meiner Kindheit und Jugend und zum Thema Leben im Wald passt.
Leider lässt er sich nicht gut ins Deutsche übertragen. Mein Traumtitel wäre »Der Strawanzer« gewesen, aber das geht in Deutschland und in der Schweiz nicht, das kennt man nur in Wien. Schade. Dann gab es noch den Einwand englischer Titel, deutscher Text, weil das die Vertreter des Buchhandels nicht mögen.
B.W.: Aber jeder versteht ihn. Und er passt zur Geschichte und zur Zeit, in der sie spielt.
Eben. Viele Leute glauben aber, dass es sich um ein Jugendbuch handelt, das sie ihren Kindern geben können. Die muss ich noch warnen, weil ja auch Sex, Drugs & Rock n’ Roll eine große Rolle spielen. Der Titel klingt zugegebenermaßen ein wenig nach Jugendbuch. Aber es ist ja auch die Geschichte eines Jugendlichen.
B.W.: Ist es dir schwer gefallen, dich selbst zu zeichnen, für dich eine Entsprechung zu finden?
Nein, gar nicht. Weil man sich ja jeden Tag mehrmals im Spiegel sieht, schauen die meisten Figuren, die man zeichnet, einem selbst ähnlich. Das sehe ich auch bei meinen Schülerinnen und Schülern oder Kolleginnen und Kollegen. Ich habe mich aber auch nicht sehr bemüht, dass mir die Figur besonders ähnlich sieht.
B.W.: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Der Luftschacht Verlag dankt Design Austria und Brigitte Willinger, die dieses Interview geführt hat, für ihre freundiche Genehmigung, den Text auf unserer Website wiederzugeben.
Termine:
Die Buchpräsentation von Wild Boy findet am 20. März 2014 um 19.30 Uhr im PULSE, Schottenfeldgasse 3, 1070 Wien statt.
Die Ausstellung Schokolade von Alexander Strohmaier in der KABINETT Comic Passage im MusemumsQuartier läuft von 6. März bis 30. Juni 2014 und ist rund um die Uhr zu sehen.
Über Alexander Strohmaier:
Der freischaffende Zeichner, Illustrator, bildende Künstler und Musiker wurde 1964 in Wien geboren und studierte Illustration und Grafikdesign in Innsbruck, Wien und São Paulo. Ab 1991 Unterrichtstätigkeit an der Universität für angewandte Kunst Wien, der Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt Wien XIV, der Werbe Akademie des WIFI Wien und am New Design Center St. Pölten, der heutigen New Design University. 1995 bis 2005 Vorstandsmitglied von designaustria. Von 2012 bis 2014 Jurymitglied des österreichischen Kinder-und Jugendbuchpreises. Illustrationen für Zeitungen und Magazine wie »Der Standard«, »Falter«, »Profil«, »Focus«, »Spiegel« etc.
Zusammenarbeit mit Werbeagenturen, Unternehmen und Organisationen wie Publicis, Young & Rubicam, Casinos Austria, Siemens, Greenpeace, Die Grünen etc.; Logo-Entwicklungen für das Land Niederösterreich, das Ronacher u. a. Kinder-, Jugend- und Schulbuchillustration für Verlage wie Luftschacht, Ueberreuter, Jungbrunnen, Ravensburger. Zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland. Seit 2000 auch genreübergreifende Kunstprojekte wie Bühnenbilder, 3D- und Textilobjekte. Seit 2005 verstärkte Konzentration auf Bücher.