Im Gespräch: Philipp Röding

“Gespenster mit leerem Magen.”

Anlässlich des Erscheinens seines neuen Romans 20XX: Autor Philipp Röding im Gespräch mit Tim Johannsen (Luftschacht) über Utopien, Krieg, dynamischen Stillstand und die Bedeutung von haute cuisine …

 

Das Jahr 20XX bleibt ja relativ unbestimmt. Wie verhält sich dieses Jahr zu unserer Gegenwart?

Der Text legt nahe, dass es sich bei 20XX um eine nur annähernd bestimmte Zukunft handelt. Tatsächlich habe ich 20XX beim Schreiben eher als ein Spiegelbild zu der Epoche gesehen, in der Claudia sich befindet. Auch wenn es im Jahr 20XX futuristisch anmutende Dinge gibt (wie z.B. die überall vorhandenen, semi-intelligenten iCubes), ging es mir eher um eine Verdoppelung der Zeitebenen als um eine lineare Fortführung.

 

Passagenweise ist im zweiten Teil von 20XX ein schleichendes Unwohlsein mitzuerleben. Ist diese zweite Zeitebene insgesamt düsterer als Claudias Zeitebene?

Ich glaube, düster ist das falsche Wort. 20XX ist für mich eher von einem allgemeinen Gefühl des Stillstands gekennzeichnet. Die Leute verreisen nicht mehr. Meistens bleibt man zuhause und sieht fern. Die Grenzen sind geschlossen, die Menschen beschäftigen sich mit sich selbst. Es gibt nur noch einen sehr spärlichen Austausch von Informationen. Man nimmt heute an, dass das Universum irgendwann einen Zustand thermischen Gleichgewichts erreichen wird. Maximale Flachheit. Das ist 20XX für mich.

 

Der erste Teil des Romans bildet die Jahre ab 2001 ab. Fixer Hintergrund sind die von den Terroranschlägen ausgehenden Kriege im Irak und in Afghanistan. Ist diese Zeit verglichen mit 20XX eine Zeit des Wandels und der Dynamik?

Ich erinnere mich daran, dass der Irakkrieg nie zu Ende zu gehen schien, auch wenn seitens der USA immer wieder behauptet wurde, man hätte jetzt gewonnen und der Krieg sei vorbei. Am nächsten Tag gingen die Kampfhandlungen aber einfach weiter. Als Jugendlicher fiel es mir außerdem schwer, zwischen dem Krieg im Irak und dem in Afghanistan zu unterscheiden. In beiden schien es irgendwie um dasselbe zu gehen und auch die Ästhetik war dieselbe. Also Panzer die durch die Wüste rollen, Marines in sandfarbenen Kampfanzügen etc. Man geht jeden Tag zur Schule, isst zu Mittag, macht den Fernseher an und sieht Bilder des Krieges. Diese Situation, die von einem dynamischen Stillstand gekennzeichnet war, habe ich versucht, über die Figur von Claudia zu erzählen.

 

 

Nicht bloß Claudia, deine Figuren insgesamt wirken über weite Teile des Textes ziellos, sie scheinen sich zeitweilig in dem sie Umgebenden zu verlieren. Ist ihre Ziellosigkeit eine Reaktion auf den von dir angesprochenen Stillstand?

In Philip K. Dicks Roman Der Galaktische Topfheiler erinnert sich Joe, die Hauptfigur, daran, wie er einmal eine Tasse aus dem Schrank nahm und darin eine tote Spinne fand. Obwohl es so gut wie ausgeschlossen war, dass sich jemals eine Fliege in das Innere des Schranks verirren würde, hatte die Spinne auf dem Boden der Tasse ein Netz gesponnen und gewartet. „Ein so gutes Netz wie es unter den Umständen eben möglich war“, erzählt Joe, „sie hatte versucht das Beste aus der Situation zu machen aber es war aussichtslos.“ Die Situation und das Verhalten meiner Figuren (in 20XX aber auch schon in Die Möglichkeit eines Gesprächs) erinnert mich ein bisschen an diese Spinne. Auch sie versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen, auch wenn die Lage oft ausweglos erscheint.

 

Worin besteht die angesprochene Ausweglosigkeit? Es scheint im Jahre 20XX ja kein Mangel zu herrschen.

Ich habe mir die Figuren immer wie hungrige Gäste an einem All-you-can-eat-Buffet vorgestellt. Es gibt zahlreiche Optionen und alles ist im Überfluss vorhanden, aber trotzdem finden sie, so wie Kafkas Hungerkünstler, nicht die Speise, die ihnen schmeckt. Gespenster mit leerem Magen.

 

Die Restaurant-Metaphorik findet sich ja an mehreren Stellen deines Textes.

Tatsächlich ist mir die Idee zu dem Roman gekommen, als ich gerade einen Teller Pad-Thai gegessen habe. Ich saß im Speisesaal der Young Men’s Christian Association auf dem Campus der Universität von Illinois, wo man das beste Pad Thai bekam, das ich jemals gegessen habe. Während des Semesters ging ich beinahe täglich dorthin. Der Besitzer war sehr freundlich und man konnte sich gratis an einer Art Wassertonne bedienen. Das Wasser schmeckte furchtbar. Nach Chlor und Zitronen. Ein schauerliches Getränk, aber weil es umsonst war, nahm ich es trotzdem jedes Mal. Aus irgendwelchen Gründen habe ich in dieser Zeit viel über Essen nachgedacht und was für eine strukturierende Rolle Mahlzeiten im Leben spielen. Überhaupt hat mich damals alles interessiert, was irgendwie mit Wiederholung zu tun hat, mit Dingen, die immer wieder passieren, Kometen, die erscheinen und wieder verschwinden usw. Mir ist dann ziemlich schnell klar geworden, dass Beschreibungen von Essen eine zentrale Rolle im Buch einnehmen werden. Ich denke, ein bisschen habe ich mich auch von Thomas Bernhard und Bret Easton Ellis inspirieren lassen. Auch bei Rachel Cusk gibt es so eine großartige Dinner-Szene.

 

Wenn die Figuren essen, dann setzt man ihnen Ausgefallenes zu essen vor. Ist in deinem Roman eine gewisse Ironie gegenüber der haute cuisine zu lesen?

Die Sprache der gehobenen Küche war für mich anfangs vor allem formal interessant. Speisekarten von Sternerestaurants haben oft einen ganz eigenwilligen Stil. Mich dieses Stils zu bemächtigen hat mich gereizt. Ich selbst koche eher einfache Gerichte und gehe eigentlich ungerne essen. Wenn überhaupt, gehe ich in sehr günstige Restaurants oder zu All-you-can-eat-Buffets. Ich weiß nicht, wie es ist, ein Gourmet zu sein. Die Menüfolgen von Luxusrestaurants wirkten auf mich daher exotisch und bizarr, wie Beschreibungen abstrakter Kunst oder Berichte aus weit entfernten Galaxien. Gleichzeitig hat es Spaß gemacht, sich ein bisschen mit dieser Materie auseinanderzusetzen. Vielleicht schaffe ich es ja mal, ins Frantzén zu gehen und diesen berühmten French Toast mit hundert Jahre altem Balsamico-Essig zu kosten, obwohl ich den Verdacht habe, dass ich mich an so einem Ort eher unwohl fühlen würde.

 

Der Text thematisiert Mahlzeiten überwiegend anhand dessen, was gegessen wird oder der Umstände, unter denen gegessen wird (Bestell-Minispiel). Ist Essen für die Figuren dann überhaupt das gesellige Ereignis, das wir aus dem Alltag kennen?

Ich glaube eigentlich schon, dass Nora und Karim das Minispiel sehr genießen und auch den Moment der Zweisamkeit, der durch das gemeinsame Essen entsteht. Dasselbe gilt für Julius und die Programmiererin. Für die Figuren sind das wichtige Momente, in denen sie versuchen einander etwas zu geben, von dem sie nicht wissen, ob sie es überhaupt besitzen. Gerade Julius ist da sehr bemüht. Der Besuch im Luxusrestaurant fällt etwas aus der Reihe. Claire, Julius und die Programmiererin wissen nicht so recht, wie sie sich verhalten sollen. Und dann liegt ja auch dieses Gefühl der Bedrohung in der Luft, die Unruhen in den Vororten, von denen man nicht weiß, wie sie sich entwickeln werden.

 

 

Medien(-berichte) spielen eine wichtige Rolle im Text. Schon im Bezug auf den Irakkrieg wird deutlich, dass die Medien fehlbar sind.

Es gibt diese berühmte Episode aus der Bush-Administration, in der eine ungenannte Quelle – man geht davon aus, dass es Karl Rove war, einer von George Bush’s Beratern – gegenüber dem Journalisten Ron Suskind das neue Verhältnis zwischen Realität und Berichterstattung darstellt. ‚

„We’re an empire now,“ sagt Rove zu Suskind (den er übrigens als Vertreter der sogenannten „Reality Based Community“ bezeichnet), „and when we act, we create our own reality. And while you’re studying that reality—judiciously, as you will—we’ll act again, creating other new realities, which you can study too, and that’s how things will sort out. We’re history’s actors … and you, all of you, will be left to just study what we do“‘

Ich erinnere mich daran, dass ich die Selbstverständlichkeit, mit der im Irakkrieg Fakten und Sachverhalte produziert wurden, irgendwie beunruhigend fand. Neben der Aussage von Rove gibt es ja zum Beispiel auch diesen berühmten Auftritt von Colin Powell vor dem Weltsicherheitsrat, wo er die Sache mit den Massenvernichtungswaffen konstruiert.

 

Bezüglich der drohenden Unruhen im Jahr 20XX heißt es von Claire, den Nachrichten könne man nicht mehr trauen. Gleichzeitig benutzen deine Figuren wie selbstverständlich alle (neuen und sonderbaren) Arten von Medien. Wie schwerwiegend ist diese Diskrepanz?

Wenn man aufwächst, baut man sich ja, ohne das wirklich zu spüren, irgendeine Art von Referenzrahmen auf. Mein eigener Referenzrahmen, so wie der von Claudia im Roman, entsteht nun unter dem Eindruck solcher Aussagen, wie Rove oder Powell sie machen. Gleichzeitig besteht die Forderung, sich als demokratisches Subjekt irgendwie zu diesen Vorgängen zu verhalten, unverändert weiter. Man ist angehalten, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen und gleichzeitig wird die Grundlage, auf der man die Entscheidungen treffen soll, ständig in Zweifel gezogen. Das ständige Beschaffen und Analysieren von Informationen ist dann vielleicht einfach der Versuch der Figuren, mit dieser Ratlosigkeit zurecht zu kommen. Andere, wie zum Beispiel Claudias Bruder, kommen überhaupt nicht mehr klar und fangen an, Hakenkreuze an die Wand zu malen und Perpetuum Mobiles zu konstruieren.

 

 

Danke für das Gespräch!

Zum Buch: 20XX
Autorenfotos: Philipp Röding
Foto Buch: Luftschacht