Gloaming – eine sehr persönliche Entdeckungsgeschichte
Nicht immer sind Algorithmen etwas Schlechtes. Zumindest jener war es nicht, der mir auf Spotify im “Dein Mix der Woche” die Nummer Don’t Swim zugespült hatte. Keaton Henson hieß der Musiker, nie zuvor gehört. Aber ich war gleich hin und weg von dieser zerbrechlich hohen Stimme, ein Sirenengesang, der seine gelassene Verzweiflung unbeirrbar in die Welt hinausschickt. Birthdays ist dann auch mein liebstes Album von ihm geworden, Don’t Swim immer noch mein Lieblingssong. Und ich hatte das Glück, ihn auf einem seiner seltenen Konzerte im Jänner 2017 im Wiener Konzerthaus zu sehen. Keaton tritt nicht oft auf, Panikattacken machen ihm zu schaffen, er mag weder Menschenansammlungen noch Interviews.
“23 Years Of Seeing Things”
Zuvor hatte ich Keaton natürlich gegoogelt. Ich hatte seine Alben durchgehört und wollte mehr. Da fanden sich seine website, ein Wikipedia-Eintrag, YouTube-links und einiges an Fotos von ihm. Und zwischen diesen Fotos ab und zu recht merkwürdige Zeichnungen; merkwürdig im Sinne von bemerkenswert. Ich habe nicht gleich einen Zusammenhang hergestellt, mich durch seine Portraits geklickt, bin dann aber doch von diesen Zeichnungen nicht losgekommen, seltsame, verlorene Gestalten, die durch karge (Stadt-)Landschaften wandeln, Frauen mit langen schwarzen Haaren, die zwischen Vorstadthäusern herumirren: Ich hatte Gloaming entdeckt. Oder 23 Years Of Seeing Things, wie es im Untertitel so schön heißt, denn Keaton Henson war 23 – und ursprünglich Grafiker –, als er diese außergewöhnliche Graphic Novel gezeichnet hat.
“Ich habe mich gefragt, wo all die Kreaturen aus meinen
Märchenbüchern waren, warum ich sie nicht sehen konnte”
Das Buch ist 2012 in einem kleinen britischen Verlag namens Pocko erschienen und es hat dann noch ein Weilchen gedauert, bis alle Formalitäten erledigt waren. Aber jetzt ist dieses – auch von der Ausstattung her – ganz besondere Buch endlich auch im deutschen Sprachraum erhältlich. Inspiriert von nordischer Folklore und japanischen Geistergeschichten zeigt Keaton Henson in Gloaming eine Welt jenseits unserer Realität. Es ist eine vergangene, melancholische Welt, die in unseren Alltag eindringt, ihre Bewohner*innen sind weniger furchterregend als verloren, sie sind schrecklich einsam und auf der verzweifelten Suche nach Erlösung. Oder wie Keaton es selbst am besten beschreibt:
Ich habe meine Kindheit alleine verbracht, mit dem Ausblick auf Dächer und Schornsteine, und habe mich gefragt, wo all die Kreaturen aus meinen Märchenbüchern waren, warum ich sie nicht in der Vorstadtlandschaft sehen konnte, wo sie doch eindeutig hingehörten. Nun, da ich erwachsen bin, lässt mich diese Idee nicht los, und im Laufe eines Jahres in Abgeschiedenheit beschloss ich, dass meine Heimatstadt Monster bräuchte. Das Ergebnis ist dieses Buch. Es zeigt, wo ich lebe, was ich sehe, und wie ich mir wünsche, dass es sein könnte. Ich nenne es Gloaming.
Ich hab ihm nach Ende des Konzerts übrigens Blumen zurückgelassen, mit einer Karte dabei, wie sehr wir uns freuen, dass wir sein Buch machen dürfen; aber da war er schon wieder von der Bühne verschwunden. Bekommen hat er sie vermutlich nicht.
Zum Buch: Gloaming
Autorenfoto: Privat
Alle Buchfotos: Andreas Scheriau
website Keaton Henson
Interview mit Keaton Henson